TOHIL-1--Metamorphose-Episode-Pilotroman-German-Edition
Mein Name ist Tohil, Sohn von Tama dem Bogenmacher. In Stammeskreisen meines Heimatdorfes werde ich auch anerkennend der Affenjäger genannt. Zumindest war dies in meinem früheren Leben so. Spätere Generationen sahen in mir einen Gott und sprachen mir die Macht über das Feuer zu. Mir zu Ehren wurden Menschen geopfert, die in bestialischen Riten ihr Leben verloren und sich dennoch auserwählt fühlten. Auserwählt, um für mich zu sterben.
Viele Erinnerungen aus dieser Zeit sind längst verblasst, für immer verloren im Strudel der Zeit. Heute lebe ich im Verborgenen. Anonym bewege ich mich zwischen den Menschen der Großstadt, ohne dass die Bewohner meine wahre Identität kennen. Ich nutze die Möglichkeiten der modernen Technologien, sitze in der U-Bahn und betrachte all die Lämmer, die sich tagtäglich abmühen, in ihrem kurzen Leben einen Schritt voranzukommen, und doch immer nur auf der Stelle treten. Meine Abgrenzung zu den Menschen vollziehe ich bewusst, denn ich bin anders. Äußerlich gleiche ich einem von ihnen, zumindest auf den ersten Blick. Tief in mir sieht es anders aus. Meine Seele hat über die Jahrhunderte gelitten und sich verzweifelt gegen die mir aufgezwungene Verwandlung aufgelehnt, immer bemüht, einen letzten Rest Menschlichkeit zu bewahren. Doch selbst mein Verstand kann nicht leugnen, dass ich zu dem geworden bin, was einst diese Metamorphose ausgelöst hat – eine Bestie.
Die schmale Brücke, die mich noch mit meiner menschlichen Existenz verbindet, wäre längst eingestürzt, hätte ich nicht den Rat unseres Schamanen berücksichtigt und meine eigene Geschichte dokumentiert. Diese geheimen Aufzeichnungen, niedergeschrieben in der Symbolsprache meines Volkes, über die Zeit fortgeführt und an einem sicheren Ort verwahrt, sind der Schlüssel zu meinem wahren Ich.
Paradoxerweise erscheint mir die eigene Biografie wie die Geschichte eines Fremden. Immer wieder lese ich die Schilderungen aus den frühen Tagen und frage mich dabei: Bin das wirklich ich?
Es ist bemerkenswert, welche Emotionen meine Schriften in mir auslösen. Grauen, Entsetzen, aber auch Mitleid und Wut – alles Gefühle, welche mir längst abhandengekommen schienen. So wertvoll diese Erinnerungen für mich sind, so gefährlich sind sie auch. Sollten eines Tages Menschen meine Aufzeichnungen finden, interpretieren und verstehen, dann würden sie mich suchen, jagen und töten wollen. Zu fremdartig würde ich ihnen erscheinen, zu groß die Gefahr, die von mir für die sogenannte Allgemeinheit ausgeht. Nicht dass ich eine Konfrontation scheuen würde, in manchen Zeiten habe ich sie förmlich gesucht. Ich erinnere mich noch an Gonzalo Jiménez de Cisneros, der mich für einen Dämon hielt, eigens aufgestiegen aus dem Höllenfeuer, um die Töchter des Katholizismus zu verführen. Sein Irrglaube war bemerkenswert, genauso wie seine Beharrlichkeit. Seine Unwissenheit wurde einzig von seiner Neugier übertroffen. So gestattete ich ihm einen kurzen Einblick in meine Geschichte, bevor ich ihn tötete. Niemals werde ich in den letzten Sekunden seines Lebens diese weit aufgerissenen Augen vergessen. Erst mit seinen letzten Atemzügen erkannte er, dass ihm sein Gott nicht helfen würde.
In den Tagen der Zurückhaltung und des Blutfastens wage ich mich weit zurück und erforsche Erinnerungen, die ich mir aus jener Zeit erhielt, als ich noch ein Mensch war. Manchmal gab ich mich der Hoffnung hin, dass die Reflexionen dieser Ereignisse mich aufrütteln würden und den damals initiierten Prozess wieder umkehren könnten. Leider hat sich diese Hoffnung als Trugschluss erwiesen. Nach vielen Jahrhunderten ist mein Verständnis über jene Ereignisse im selben Maß gewachsen wie das Wissen der Menschen. Leider verdeutlichte mir dieses Wissen auch mein eigenes Schicksal. Es gab keinen Weg zurück. Tohil, der Jäger, ist Geschichte ...